Mai
M. Felfernig, C. Fölzer, R. Hammer, A. Jany: Wohnbedürfnisse – Was wir wirklich brauchen
Barbara RuhsmannPolitik
Marlies Felfernig, Christian Fölzer, Renate Hammer, Andrea Jany
Wohnbedürfnisse – Was wir wirklich brauchen
Ein Arbeitsbericht
„Viele ärgern sich über den Status quo der Wohnbaupolitik. Wir haben jene Menschen aus der Branche eingeladen, die Probleme lösen wollen. So bereiten wir mit dem Innovationslabor den Boden, auf dem neue Initiativen wachsen können“, stellt Franz Fischler, Präsident des Europäischen Forums Alpbach die Absicht von „RE:think | Wohn.Bau.Politik“ im März 2014[1] klar.
Im Zuge der Veranstaltung entsteht eine interdisziplinäre Kleingruppe,[2] die sich mit der Grundsatzfrage nach tatsächlichen Wohnbedürfnissen auseinandersetzt. Klar wird bald: Ohne fundiertes Wissen darüber, was wir wirklich im Zusammenhang mit dem Wohnen brauchen, kann kein befriedigendes Konzept für den Wohnbau formuliert und keine zielführende Wohnbaupolitik gemacht werden.
Wohnbau als Exempel der Krise
Die Bereitstellung von ausreichend leistbarem Wohnraum wurde in Österreich spätestens mit der Einführung einer zweckgebundenen Wohnbausteuer im Jahr 1923 als wesentliche politische Verantwortung begriffen. Bis in die jüngste Vergangenheit hatte sich der heimische Wohnbau im internationalen Vergleich durch Stabilität in einer angemessenen Produktion ausgezeichnet. Durch die seit dem Jahr 2008 bestehende Finanz- und Wirtschaftskrise spitzt sich die konjunkturelle Situation zu, was grundlegende strukturelle Probleme offenkundig werden lässt.
Dabei geht es um die keineswegs neue Tatsache, dass unsere Ansprüche mit dem verfügbaren Angebot nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Dass unser Lebensstil – und damit auch unsere Art zu wohnen und Wohnraum zu organisieren – auf ökologischem Raubbau basiert, egal ob man Material- und Energieverbrauch oder CO2equ-Emissionen und Bodenversiegelung betrachtet, ist und war bekannt, wird jedoch im Alltag allzu gern verdrängt.
Die aktuell neue und entscheidende Facette aber betrifft das Faktum, dass sich zunehmend mehr Menschen Wohnen in der angebotenen Form finanziell nicht mehr leisten können. Dies ist eine grundlegende, nicht zu leugnende Beeinträchtigung der Lebensqualität im einem der reichsten Staaten der Erde. Dass ein allgemeines Problem der „Unterdeckung“ besteht, musste zwangsläufig zuerst an der größten Investition, die wir in unserem Leben tätigen, nämlich der Beschaffung, Erhaltung und dem Betrieb von Wohnraum, sichtbar werden.
Wohnbau ist gegenwärtig kaum nachhaltig bereitzustellen. Dass der Effizienz und dem ökonomischen Wachstum soziale und ökologische Aspekte nachgeordnet wurden, wird nun offenkundig: Wohnen ist damit in einer Sackgasse. Ursachen dafür liegen auch in geänderten Rahmenbedingungen, die die Finanzierung für den Wohnbau erschweren. Die Finanzregelungen nach Basel III, der Einbruch am Wohnbauanleihenmarkt und – von besonderer Bedeutung – die Sparvorgaben im öffentlichen Haushalt haben dazu beigetragen, dass die Finanzierung sowohl von Sanierung als auch von Neubau nicht sichergestellt werden kann. Besonders der geförderte Wohnbau ist davon betroffen. Nachdem in den Jahren 2000 bis 2010 im Schnitt 30.000 Einheiten gefördert worden sind, wurden 2012 und 2013 nur 23.000 bzw. 23.700 Wohneinheiten einer Förderung unterzogen.[3] Personen mit geringem Einkommen sind von diesen Sparmaßnahmen besonders betroffen. Bei den Eigenheimen liegt das aktuelle Niveau der Förderzusicherungen um -27 % unter dem Zehnjahresdurchschnitt.[4] Eine weitere Maßnahme, die zu geringer Wohnbautätigkeit führt, ist die Senkung der Förderung von Bausparverträgen. Hier sind die verfügbaren Mittel von € 2,2 Mrd. auf € 1,8 Mrd. gesunken.[5] Zu betonen ist, dass diese finanziell krisenhafte Situation nicht nur die Nachfrageseite der Mieter, Eigenbedarfskäufer und „Häuselbauer“, sondern vermehrt auch Vermieter, die Immobilienbranche und Wohnbauträger betrifft. Diese konnten bisher davon ausgehen, dass sich das System Wohnen trägt, schlicht aus der Tatsache, dass Wohnen ein Grundbedürfnis ist und jeder wohnen muss.
Zeitgleich herrscht in den urbanen Gebieten starker Zuzug und ein anhaltender Trend der Investition in Immobilien als Wertsicherung. Der Neubau kann dem Interesse zahlenmäßig nicht nachkommen. Hieraus ergibt sich ein Marktverhältnis, bei dem die Nachfrage stark über dem Angebot liegt. Die Immobilienpreise steigen kontinuierlich. Dies schlägt sich auf die Qualität vieler Wohnbauten, insbesondere der „Vorsorgewohnungen“, nieder. Häufig entscheidet der beste Preis, nicht die Qualität oder das Konzept.
Nachdem die Krise nicht mehr nur unleugbar ist, sondern auch täglich wachsend das Leben immer größerer Gruppen beeinträchtigt, macht sich Ratlosigkeit breit und der Ruf nach politischer Lenkung wird laut. Ebenso wird aber auch der Handlungsdruck für die Politik immer größer. Um an einer Bewältigung der Krise arbeiten zu können, ist die Auseinandersetzung mit der Ausgangslage zentral.
Wohnen zwischen Anspruch und Bedürfnis
Die allem zugrunde liegende und entscheidende Frage ist: Wie sehen unsere Wohnbedürfnisse gegenwärtig konkret aus? Und in weiterer Folge: Was brauchen wir als physiologisch, sozial und kulturell definierte Wesen in Hinblick auf das Wohnen? Wo verläuft die Grenze zwischen Anspruch und Bedürfnis? Wie decken wir unseren Bedarf, wenn wir ihn einmal kennen, und wo besteht Einsparungs- und Veränderungspotenzial?
Aus physiologischer Sicht ist festzustellen, dass der Lebensstil der Menschen, aber auch der Wohnbau nicht dem entsprechen, was Menschen eigentlich sind: Ausdauernde Läufer, gleichwarme Wesen angepasst an den Wechsel von Temperaturen und Solarstrahlungsangebot über den Tages- und Jahreslauf. Dem zuwider handelnd verbringen wir 90 % unserer Lebenszeit in Innenräumen, die mit einem mittleren Beleuchtungsstärkeniveau von etwa 200 lx ausgestattet sind, während bereits bei Sonnenaufgang 7.000 lx die Regel sind. Dies erhöht sich bis zu 1.000.000 lx an einem klaren Sommertag. Wir wohnen und arbeiten sommers wie winters, Tag und Nacht in konstanten Temperaturen. Wechselnde Luftströmungen, wie sie im Außenraum entstehen, werden unterbunden. Wir sind an teils extrem wechselnde Geräuschpegel angepasst, Dauerlärm macht uns hingegen ebenso wie akustische Isolation krank. Durch unseren Lebensstil, auch manifestiert in den physiologischen Bedingungen, die unsere Wohnungen bieten, sind nicht-ansteckende Zivilisationskrankheiten im Vormarsch. Darüber nachzudenken, ob ein Balkon notwendig ist oder wie klein Fenster sein können und ob man sie wirklich öffnen können muss, bedeutet gegen die Basis menschlicher Bedürfnisse zu handeln. Aber auch die Konditionierung der Innenräume auf konstanten maximalen Komfort läuft der menschlichen Grundausstattung zuwider.
Noch unmittelbar erlebbarer als physiologische Anpassungen sind Veränderungen im Zusammenleben: Von zentraler Bedeutung für unser Sozialsystem ist der Generationenvertrag, dessen Einlösung angesichts der demographischen Entwicklung der Kinder- und jungen Erwachsenengeneration immer schwieriger wird. Eine weitere Herausforderung ist der Wohn- und Pflegestandard, der durch künftige Pensionen zu finanzieren ist. Eine zentrale Frage dabei lautet: Wie entgeht die stetig wachsende Zahl an Mindestpensionisten, die behaftet mit allen Erscheinungen des physiologischen Mangels oft Jahrzehnte lang Betreuung brauchen, der Armut? Dringlichst notwendig ist ein Wohnraum, den wir uns im Alter leisten können und der uns lange Selbständigkeit ermöglicht. Die Frage nach der Unabdingbarkeit von Barrierefreiheit bei gleichzeitiger Notwendigkeit zur Ertüchtigung ist in diesem Sinn nicht ausreichend untersucht. Klar scheint: Personen, die keine adäquaten Anforderungen und Reize vorfinden, sind stärker vom Abbau ihrer Konstitution betroffen.
Andere wesentliche Verschiebungen im sozialen Gefüge – wie die Entwicklung von Familienverbänden abseits der klassischen Kernfamilie, Single-Dasein im Alter oder erhöhte Arbeitsmobilität – brauchen Anpassungen des Wohnraums und vielleicht sogar grundlegende Änderungen der Wohnbaukonzeption. Die Wohnungen der Gegenwart bieten z. B. kein Abbild unserer kulturellen Realität des Lernens, Arbeitens oder Medieneinsatzes: Kinder kommen nicht mehr mittags aus der Schule und brauchen keinen Schreibtisch mehr, wie er im „Herrenzimmer“ des 19. Jahrhunderts stand, um Hausübungen zu schreiben. Gespielt und gearbeitet wird vielfach am Bildschirm. Darum ist es notwendig, über einen förderlichen Bildschirmspielbereich oder einen Erholungs- und Rückzugsraum nachzudenken. Wie gestalten wir Anreize und Möglichkeiten zum körperlichen Ausgleich in der Wohnung, wie schaffen wir Bewegungsflächen und räumliche Herausforderungen im Wohnumfeld? Wie überzogen käme uns dabei die Forderung vor, 12,5 m² Straßenraum als Bewegungsfläche pro Wohneinheit mit Kind vorzuschreiben? Dem gegenüber sind aber Stellplatzverpflichtungen für Kraftfahrzeuge gesetzliche Normalität und Realität.
Schließlich wird es in Zukunft auch notwendig sein, den Wohnbau offen für weitere Entwicklungen zu halten. Was heute eine zentrale Anforderung beispielsweise unserer Arbeitskultur oder Mobilität ist, kann morgen obsolet sein. Klar ist jedoch, dass sich unsere Physiologie nicht in Zeiträumen verändert, die für das Bauen relevant sind. Die Einhaltung von Grenzen sowohl möglicher Flexibilisierung als auch wirtschaftlicher Sparsamkeit liegen dort, wo Bedürfnisse unverrückbar sind.
Wissen als Basis für einen bedarfsgerechten Wohnbau
Was kann die richtige Reaktion auf eine jahrzehntelange Fehlentwicklung sein, deren Ziel Wachstum hieß und die Ansprüche, nicht Bedürfnisse realisierte? Wie: Mehr Wohnnutz- und mehr Siedlungsfläche pro Kopf, weniger Köpfe pro Wohnung und längere Verkehrswege, mehr Sicherheit, aber auch höherer technischer Aufwand für Schall-, Wärme- und Brandschutz. Grundrisskonzepte, die zerrieben werden zwischen Effizienzanforderungen einerseits und steigenden Standards andererseits, deren Sinnhaftigkeit oftmals nicht durch eine Kosten-Nutzen-Analyse hinterfragt wurde.
Was bleibt als Qualitätsmerkmal für den Wohnbau, wenn nicht mehr Leistbarkeit geschweige denn umfassende Nachhaltigkeit erreicht werden können? Eines zeichnet sich ab: Wenn es uns nicht gelingt, Alternativen zu entwickeln und tatsächlich in Wohnbauten umzusetzen, wird auf den finanziellen Kollaps der soziale und schließlich der ökologische Zusammenbruch folgen. Was wir aktuell bewohnen, können wir uns in keiner der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit leisten.
Was ist die notwendige Grundlage für sinnvolle Veränderung? Die Zusammenführung von Wissen aus unterschiedlichsten Disziplinen – wie Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Physiologie, Architektur oder Raumplanung, um nur einige zu nennen – die sich aus ihrem Blickwinkel mit unseren Bedürfnissen befassen. Daraus abgeleitet kann eine Identifizierung von möglichen Wissensdefiziten erfolgen und eine fokussierte Erweiterung der nötigen Wissensgrundlage erarbeitet werden. Der umfassende Wissenstransfer interdisziplinärer Erkenntnisse in eine praxisorientierte Wohnbauforschung bildet die Basis für tragfähige Wohnbaukonzepte.
Ein konkreter erster Schritt wäre die Zusammenführung und Interpretation vorhandenen Wissens in einem Wohnbedürfnisreport. Dieser soll zur Basis für eine Vervollständigung des Kenntnisstandes und für eine experimentelle Umsetzung von Pilotprojekten werden. Aus diesen können schließlich Modelle für einen Ausgleich zwischen Ressourcen und Bedürfnissen im Wohnbau entwickelt werden.
Historisches Best-Practice
Zeiten der Krise bieten die Chance zur grundlegenden Erneuerung. Vorbild könnte hier das Projekt „Neues Frankfurt“ der 1920er Jahre sein. Durch ein konsequentes Zusammenwirken von Politik, Verwaltung, Planung sowie privater und öffentlicher Hand entstanden hier innerhalb kürzester Zeit 12.000 Wohnungen, die nicht nur neu, sondern auch innovativ waren. Dies deshalb, weil sie sich innerhalb von extrem begrenzten Möglichkeiten am tatsächlichen Bedarf und der Lebensrealität der BürgerInnen orientierten.
Ein weiteres Beispiel für gelungenen Neubau ist das so genannte „Modell Steiermark“. Bedingt durch die Nachkriegsjahre war Österreich im Bereich der Wohnbautätigkeit ein reiner „Wohnversorger“. Die Architektur war auf einfache, klare Standards reduziert, um damit eine schnellstmögliche und reibungsfreie Errichtung zu gewährleisten. Mitte der 1960er Jahre entstand in Graz jedoch etwas völlig Neues. An der Technischen Universität entwickelten sich Architektengruppen mit visionären Ansätzen, was eine Aufbruch-, aber auch Umbruchsituation nach sich zog. Als erstes konnte die Werkgruppe um Friedrich Gross-Ransbach, Eugen Gross, Herrmann Pichler und Werner Hollomey ihre Ideale im großen Maßstab realisieren: In den Jahren 1972-78 wurde das Projekt „Terrassenhaussiedlung“ in Graz mit mehr als 500 Wohneinheiten umgesetzt. Aufbau und Konzept waren für die damalige Zeit revolutionär. Nach den Entwürfen in den Aspekten des Städtebaus, der Kubatur, des Tragsystems und der Infrastruktur wurde den Wohnungswerbern erstmals im Wohnungsbau ein Mitspracherecht eingeräumt. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet, um daraus für die Zukunft Erkenntnisse zu sammeln, die in das „Modell Steiermark“ einflossen. Parallel dazu entstand eine kleinere Siedlung in Deutschlandsberg. Eilfried Huth baute in drei Bauetappen zwischen 1974-1981 insgesamt 65 Wohnungen. Das Projekt gilt als Vorreiter weiterer 11 Mitbestimmungsprojekte unter seiner Leitung. In der Folge erregte das wohnungspolitische Experiment des „Modells Steiermark“ internationale Anerkennung. Mit breiter Unterstützung durch Landespolitik und Verwaltung konnte eine große Zahl von Projekten realisiert werden. Die Projektauswahl fand durch Wettbewerbe, Partizipation der BewohnerInnen und auf Basis einer Vielfalt an Wohngrundrissen statt.
Zusammenfassung
Wie gezeigt werden konnte, ist der Wohnbau in Österreich durch ein gewisses Maß an Stabilität geprägt. Bedingt durch Einsparungen des öffentlichen Sektors und der Wirtschaftskrise seit 2008 ist diese Stabilität jedoch nur noch in Ansätzen vorhanden. Als möglicher Lösungsweg kann eine genaue Analyse der Wohnbedürfnisse gesehen werden, die im Rahmen der Vorbereitungen für die Alpbacher Baukulturgespräche 2014[6] von einer ad-hoc-Gruppe vorgeschlagen wurden. Vorbilder dabei können einerseits die Bauten der Zwischenkriegszeit in Frankfurt aber auch die Wohnungen in der Steiermark ab den 1970er Jahren sein.
[1] Das Innovationslabor „Re:think | Wohn.Bau.Politik“ fand von 6. bis 7. März 2014 in der Seestadt Aspern in Wien statt. Es wurde vom Europäischen Forum Alpbach in Kooperation mit der wvg Bauträger Ges.m.b.H. organisiert und versammelte rund 80 Stakeholder des Systems Wohnbau, die in einem interaktiven Setting die Brennpunkte österreichischer Wohn(bau)politik lokalisierten und To-do-Listen und Handlungsanweisungen für die Verantwortungsträger des Systems erarbeiteten.
[2] Marlies Felfernig (Juristin), Christian Fölzer (Ökonom), Patrick Gratzer (Soziologe), Renate Hammer (Architektin), Hannes Horvath (Ökonom) Andrea Jany (Architektin) Ewald Reinthaler (Land Oberösterreich)
[3] Quelle: Österreichischer Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen, http://www.gbv.at
[4] Quelle: IIBW – Institut für Immobilien, Bauen und Wohnen GmbH, Wohnbauförderung in Österreich 2012, http://www.iibw.at/DE
[5] Quelle: Gewerkschaft Bau Holz, http://www.bau-holz.at
[6] Die Alpbacher Baukulturgespräche sind fixer Bestandteil des internationalen und interdisziplinär ausgerichteten Europäischen Forums Alpbach. Sie stehen von 28. bis 29. August 2014 unter dem Motto „Lebenswerte und gerechte Städte schaffen“.
Tags: Förderzusicherungen, Wohnbau, Wohnbauträger